23.6.05

Your lupines, please!

Teil 3. Etwas länger geworden.

Als das Meer in diesem April auftaute, wurde auf einmal das Bier im Supermarkt billiger. Ich dachte zunächst, das habe mit dem bevorstehenden Maifeiertag zu tun (Vappu, 1. Mai). Vielleicht, damit sich auch wirklich jeder Finne seinen Rausch zu Vappu leisten kann, so nach dem Motto: Opium für das Volk.
Nach Vappu wurde das Bier aber auch nicht mehr wesentlich teurer. Einige Marken liegen immer noch bei unter zwei Euro pro Liter (vorher: etwas über drei Euro).

Damit kann der Finne in den Sommermonaten genau die zwei Dinge tun, die er in seiner Freizeit am liebsten macht: 1. im und um das Haus herum mit grosskalibrigen Elektrowerkzeugen möglichst viel Lärm machen und 2. sich freitags und samstags so richtig schön einen auf die Lampe giessen.

Beides trägt nicht unbedingt zu unserer Erbauung und Erholung bei. Zumal in Finnland angesichts des kurzen Sommers (und der hässlichen Eigenschaft wegen, dass Beton bei Temperaturen von unter fünf Grad Celsius nicht ordentlich abbindet) Anfang Mai die Baustellen wie Pilze aus dem Boden schiessen, also unter der Woche tagsüber bereits für Dauerbeschallung gesorgt ist. Und auch dabei spielen grosskalibrige Werkzeug eine Rolle (wenn auch gerne generator- oder motorbetrieben. Aber Hauptsache laut und bis Ende August).
Unter der Woche also Baustellen, am Wochenende die Heimwerker und Freitag- bzw. Samstagnacht Betrunkene.

Hier liegt das eigentliche Problem. Wenn man das Glück hat, an einem von den insgesamt drei Orten in Finnland zu wohnen, an denen ein Zugang zum Meer mit einem Mindestmass an Infrastruktur gekoppelt vorhanden ist, dann kann man davon ausgehen, dass man dort zuweilen ein gerüttelt Mass an Betrunkenen vorfindet.
Wobei sich die Hardcore-Spritties in Finnland beinahe angenehm von den Wochenendsäufern abheben. Erstere sind nämlich irgendwann einfach voll und tappen friedvoll in Schlangenlinien heim.
Der Freitagabend hingegen gehört den Jugendlichen. Ausgestattet mit ein bis zwei Sixpacks (oder Zwölfpacks) pro Person sieht man sie in Gruppen gegen sieben Uhr abends zu einem Strand oder einem Felsen ihres Vertrauens ziehen. Um zwei Uhr nachts hört man sie dann zurückkehren. Lauthals brüllend. Das Wort, das sie dabei am häufigsten brüllen, ist "vittu" ("Fotze"). Obwohl (oder vielleicht: gerade weil) auf dem Hinweg noch Mädchen dabei waren.
Wenn gar irgendwo in unserer Umgegend noch eine Fete im Gange ist, kommt es gerne zu verquollenen Wortgefechten und Schreiereien mit den Fetenleuten, die sich zum Rauchen auf dem Balkon rumdrücken. Es muss wirklich furchtbar sein, wenn einem das Testosteron derart aus den Augen quillt.

Der Samstag hingegen gehört den reiferen Semestern. Hier lädt sich der Finne gerne Freunde und Bekannte ein, trinkt ein wenig Zeug mit Bläschen drin und singt finnische Schlager. Wiederum nachts hört man sie dann heimmarodieren.
Mitunter bieten sich aber auch wirklich entwürdigende Szenen: einem halbstündigen gelallten Wortgefecht, in dessen Verlauf die Stimme des weiblichen Parts immer lauter, schriller und höher wird (der Redepart des männlichen Diskutanten beschränkt sich meist auf Halbsätze und gemurmelte und gebrummte Dinge), folgt das Tack-tack-tack-schlurf-tack-tack von davonstöckelnden Damenschuhabsätzen, das urplötzlich verstummt. Der Zuhörer denkt, die Kombattanten hätten fertig und dreht sich im Bett auf die andere Seite. Dann geht's aber erst richtig los: die Frauenstimme kreischt noch lauter los und der Mann sieht sich zu antworten genötigt. Weil die Frau aber aus dem Blickfeld des Mannes verschwunden ist, fängt er nun auch an zu brüllen, während er auf einer Bank sitzend vor sich hin schwankt und geschlagene drei Minuten braucht, um eine Zigarette aus seiner zerknautschten Packung zu fummeln. So geht es dann eine Weile, unterbrochen von längerem Schweigen des Mannes und Monologen der Frau, in die sich vereinzelt Schluchzer mischen. Erstaunlicherweise ist auch hier das am häufigsten benutzte Wort "vittu".
Passanten, die leise redend in kleinen Gruppen vorbeikommen, nehmen die Auseinandersetzung ohne Kommentar zur Kenntnis. Irgendwie scheint es in Finnland nicht en vogue zu sein, Leute, die sich stinkebesoffen zum Affen machen, gesellschaftlich zu sanktionieren.
Das ganze findet natürlich unter dem gnädigen Licht des mittsommerlichen Dämmerungshimmels statt, was dem ganzen etwas zusätzlich Surreales verleiht, denn der solcherart gestörte Schläfer denkt unweigerlich darüber nach, ob nicht er derjenige sei, der sich der Tageszeit entsprechend unangemessen verhalte.

Vermutlich aufgrund dieser nur vereinzelt liebenswerten Schrullen seiner Mitmenschen versucht der Finne, im Sommer so viel Zeit wie möglich ausserhalb seines Wohnortes zu verbringen. Leider hat er in seinem kesämökki (Sommerhäuschen; ostdtsch.: Datsche) zumeist keinen elektrischen Strom. Es sei denn, er verfügt über einen geräuschvollen Generator, um seine Lärmgeräte zu betreiben und um seine Bierflaschen im Kühlschrank zu verstauen. Damit sie in der Sauna nicht so schnell warm werden. Womit sich der Kreis der sinnvollen Freizeitgestaltung wieder schliesst.

Im Zusammenhang mit "Sommer" und "draussen" fällt mir noch eine weitere Einzelheit ein, die die These stützt, dass die finnische Gesellschaft ihrem Wesen nach eine sozialistische ist.
Es gibt hier das sogenannte Jedermannsrecht (finn.: jokamiehenoikeus). Es besagt ungefähr, dass man (also jedermann, auch Banker, Arbeitslose, Werftarbeiter) sich jederzeit ohne Einschränkung in nicht umzäunter Wildnis aufhalten darf, dort nach Herzenslust Beeren und Pilze pflücken und ausserhalb der Sichtweise von Wohngebäuden auch sein Zelt aufstellen darf (wenn man nichts dagegen hat, des Nachts von Mücken aufgefressen zu werden. Mücken sind ausserdem die einzigen Viecher, die man im Rahmen des Jedermannsrechts ungestraft jagen darf). Man darf halt nix kaputtmachen und soll keinem anderen bei der Ausübung des jokamiehenoikeus auf die Nerven fallen.
Wie das folgende Foto eines Plakats aus Turku zeigt, ist das Jedermannsrecht nicht auf den Aufenthalt in der Natur beschränkt ("On" heisst "ist").

Der diese kurze Reihe abschliessende Teil vier widmet sich der seltsamen Vorkommnisse rund um das finnische Mittsommerfest, der Mehrwertsteuer und der Fortbewegung. Bis dahin ein schönes Mittsommerfest ("Hauskaa Juhannusta!").